„Better Call Saul“ – Recap nach Staffel 6
Dass wir von Zukunftia keine Serien mögen und „eh alles doof finden“, ist ein weitverbreiteter Irrglauben. Er basiert auf der Vorstellung, eine Bewertung „3 von 5“ wäre so etwas wie ein 1000-köpfiger Demonstrationszug mit Brandbeschleunigern. Doch es gibt auch Serien, die sogar deutlich über „Gut“ rangieren. Und „Better Call Saul“ ist so eine. Daher beantworten wir heute – wenige Tage nach deren Ende – die häufigsten Fragen des Publikums. Es gibt nämlich keine doofen Fragen. Nur doofe Fragensteller.
Inhalt: Über den quirligen Anwalt mit dem losen Mundwerk sollte man eigentlich nicht mehr aufklären müssen. Falls doch, hier die Kurzzusammenlobung: Jimmy versucht sich zu Beginn von seinem übermächtigen Bruder zu lösen, der mit einer psychischen Erkrankung zum gaskocherschwingenden Einsiedler geworden ist. Außerdem will er sich von seiner Vergangenheit als Trickbetrüger lösen, die ihn immer wieder überfällt, wenn die Dinge nicht gradlinig laufen.
Kommen wir nun zu euren Fragen:
„Dieses ‚Saul‘ soll ja eher langsam und stinklangweilig sein. Ist das so korrekt?“
Nein, mein Herr aus der (offensichtlich) hinterletzten Reihe. Wobei ich gestehen muss, dass man bei der ersten Staffel noch denken könnte, dass wir hier eine weitere „Verhinderungs-Serie“ haben, bei der der Orgasm… der Knackpunkt viel zu spät enthüllt wird.
Es geht hier aber nicht darum, in jeder Episode ein Krimi-Feuerwerk oder gar einen Gerichtsfall abzuhaken, sondern wir sehen Stück für die Stück die Entwicklung eines komplexen Mannes. Mit zusätzlichen Komplexen drin.
„Mein Name ist Jimmy. Und meine Krawatte ist Anwalt. ICH habe mich nur drangehängt.“ – Probleme zur Probe: Seine schlaue Art bringt Jimmy aus Schwierigkeiten heraus, die er als dummer Mensch gar nicht gehabt hätte.
Die Dramaturgie findet dann oftmals im Kopf des Zuschauers statt, der für sich auskaspern muss, warum ein hochintelligenter, fleißiger Mann wie Saul ständig billige Abkürzungen oder „Moralbiegungsaktivitäten“ sucht, um reich zu werden. Wobei sich das erst nach und nach ergibt – gerade zu Beginn scheint er oft noch am Wohl der Klienten interessiert zu sein.
Und das sind angeblich oft Leute, die „besoffen ihre Nudel zeigen“.
„Es wird ja immer von diesen tollen Look der Serie gesprochen. Ich sehe da nix.“
Dann müssten Sie bitte noch mal hinschauen, verehrte Dame mit der gelben Armbinde mit den drei schwarze Punkten. Es geht hier nicht um Krachbumm, sondern darum, dass diese Serie offensichtlich für Besitzer von 120-Zoll-Fernsehern gemacht worden ist. Denn das Kamerabild ist stets so schön arrangiert, dass viele Shots problemlos in ein Wohnzimmer gehängt werden könnten. Und fast NIE ist dies nur Selbstzweck.
(Die Bilder jetzt; dank der Heizkosten ist ein Wohnzimmer tatsächlich bald Selbstzweck)
„Wie richten wir nur unsere erste Kanzlei ein, Jimmy?“ – „Egal. Ich habe so viele Ideen, dass wir sie bald gegen die zweite, unverbotene ersetzen müssen.“ – Schultersch(l)uss: Kim Wexler hält immer zu ihrem überkomplexen Freund. Und damit ist nicht das Bundesgesetzbuch gemeint!
Optisch kann man es eh kaum besser machen, wenn man alltägliche Kulissen zeigt:
Zerrissene Charaktere spiegeln sich in wabernden Oberflächen, verlorene Charaktere gehen im Wüstenpanorama fast unter, während sogar ein blöder Kaffeebecher wichtig wird, der nicht in die Halterung im ungewohnten Luxusauto passt – gefilmt aus der malträtierten Lochhalterung HERAUS.
Was dann auch wieder zeigt, wie sehr hier Spießbürgerwelten und der Trickbetrüger-Anwalt mit dem großen Herzen zusammenprallen.
„Ich kapiere das alles nicht. Wir sehen nur wenige Gerichtsverhandlungen, dafür aber die schöne Partnerin des Anwalts, die aus völlig unverständlichen Gründen seine halblegalen Tätigkeiten unterstützt.“
Das ist ja das Schöne! Es geht hier immer um mehrere Dinge. Um Liebe, Kriminalität, gesellschaftliches Engagement, Freundschaft, die Mafia, das amerikanische Rechtssystem und die Vorzüge von uralten Sicherheitsmännern, denen keiner was vormacht.
Ja, wäre der Darsteller nicht bereits so alt, hätte ich eine weitere Prequelserie zu Mike Ehrmantraut bejubelt! Ohne jede satirische oder fanboymäßige Einschränkung…
„Wir sollten den Anwalt dazu holen, diesen Jimmy!“ – „Um unsere Crystal-Meth-Fabrik zu betreiben?“ – „Nein. Als energetisches Vorbild. Seine Auftritte sind oft die beste Droge, lechz!“ – Wer diese beiden Herren noch nie gesehen hat, sollte seine große „Schäm-Tour“ nur durch ein Durchbingen von „Breaking Bad“ unterbrechen.
Die wenigsten dieser Dinge sind plump oder vorhersehbar. Klischees sind hier meist Tabu – von einigen winzigen Nebenrollen abgesehen.
So ist es ja GERADE spannend, warum sich die sehr erfolgreiche Luxusanwältin zu unglamourösen Pflichtverteidigungen hingezogen fühlt. Oder warum genau sie sich in Jimmy verguckt… Zwar werden 2-3 Rückblicke aus ihrer Kindheit gezeigt, aber was die genau bedeuten, wird niemals ausformuliert. Es gibt keine einzige Szene in den 6 Staffeln, in der Kim Wexler sagt: „Jimmy, meine Mutter war ähnlich verschlagen wie du. Und weil ich sie verloren habe, suche ich unbewusst deine Nähe.“
Wobei auch viele, viele andere Interpretationen zulässig wären.
Generell muss man die aber NIE anstellen… Dies hier ist eine Fernsehserie, die sich exakt so weit öffnet, wie man es will oder braucht. Aber nicht mehr.
Wenn man einfach Freude daran hat, wie zwei Männer in der Wüste ihren eigenen Urin trinken, genügt auch das fürs Guckvergnügen.
„Aber sind Vorgeschichten, also Prequels, nicht immer totaler Müll? Wen interessiert so was, wenn das Ursprungswerk (Breaking Bad) supergut ohne diesen Ballast funktionierte?“
Das Tolle ist ja, dass es sich nicht wie ein Prequel anfühlt. Es gibt kaum billigen Fanservice, oder wenn, dann wirkt er eher TEUER und aufwändig. Und tatsächlich gewinnt „Breaking Bad“ danach noch, da das schräge Zusammenspiel aus „Schäbiger Anwalt“ und „Kartell“ und „Sicherheitsmann Mike“ vor 10 Jahren eeetwas faul wirkte – und nun plötzlich mehr Sinn ergibt.
„Lassen Sie meinen Mandaten bitte laufen.“ – „Und was bekommt die Drogenfahndung dafür?“ – „Geben Sie mir ein Tonbandgerät, ein Kaugummi und einen Notizblock, dann werden wir sehen!“ – Der MacGyver der Worte: Jimmy ist erneut in seinem Element. Schade nur, dass es auch das von Chefermittler Hank Schrader ist.
Wenn wir z.B. eine Prostituierte sehen, die in „Breaking Bad“ noch mal wichtig wird, fühlt sich das rund und schön an.
Wohingegen sich fast alle anderen Prequels (vor allem im SF-Bereich) eher so anfühlen, wie die Prostituierte aussieht: Verbraucht, verlebt, verlierend.
„Klingt bisher wie eine in den Himmel gelobte Anwaltsserie mit persönlichen Problemen. Halt so ein weiteres Netflix-Ding, was einem auf der Arbeitsstelle als genial angepriesen wird. Bis man sich das dann Zuhause ansieht und erneut die Standard-Stellschrauben der Medienindustrie auf der Glotze erspäht.“
Ist es aber nicht. Die Serie ist sogar ausgesprochen mutig. Sie liefert nicht das, was man oft möchte – sondern oft etwas Besseres.
Was dann auch die eigenen Erwartungshaltung und den Filmgeschmack bis hin zur Selbstzerschneidung schärft.
So ist der schnöselige Luxusanwalt Howard TROTZ seines Auftretens ein extrem vergebender Mann, der Jimmy sogar schätzt – trotz aller Differenzen. Und wann immer man ihm etwas Schlechtes wünscht, fühlt man sich einige Minuten später wieder mies. Weil er z.B. jeden niederen Angestellten mit Respekt behandelt. Wen interessiert es da, auf welche Golfplätzen er seine Luxus-Armbanduhren ausführt?
Oder nehmen wir die vielen Gangster, die wir sehen. Es wäre leicht gewesen, uns 50% davon als hässlich oder strunzdoof oder extrem böse unterzujubeln. Passiert aber nicht.
„Okay, DU erschießt sie von vorne. Und ich passe auf, dass uns kein dahergelaufenes Gewissen auf den Sack geht.“ – Ballern, bis der Tierarzt (= Serien-Insider-Gag) kommt: Manche Actionszenen sind durch ihre Trockenheit fast wieder skurril.
Selbst die hinterletzte Hilfskraft beobachtet sehr genau jede Bewegung im Gelände – oder im Gesicht des psychopathischen Chefs. Es geht nie ums Draufhauen, sondern um Gramm (beim Abwiegen), um Sekunden (beim Timing im Job) oder das, was ein anderer hochintelligenter Beobachter wahrnehmen könnte (z.B. beim Fälschen oder Vertuschen eines Zwischenfalls).
Dies hier ist nicht so ein Plump-Festival wie „Strange New Worlds“, wo einem jede Wendung zusätzlich noch erklärt wird. Nein, auch WIR beobachten plötzlich präparierte Fußmatten, rutschende Hähnchenhälften oder den Griff in die Jackentasche. Eben weil jedes Detail, jedes Schräubchen (auch das im Kopf) noch wichtig werden kann.
„Jetzt mal Butter bei die Fische! Ich habe gehört, dass die die letzten Folgen in Schwarz-Weiß sind! Und 1-2 zentrale Klageverfahren der Serie über 6 Staffeln gehen. Ohne, dass wir das Ende erleben. Was soll das denn?“
Das soll eben… normal…? Ich weiß, ich bin der erste, der Artsi-Fartsi-Unterhaltung, die Handlungsstränge nicht auflöst, kritisieren würde.
Aber HIER ist es eben so wie damals bei den Sopranos: Dinge dauern ihre Zeit, schlafen ein oder kommen von einem Tag auf den anderen wieder hoch. Da kann ich (oder ihr) ja nix für! Das ist sogar sehr (ent)spannend, weil es im Rahmen einer Lebenssimulation Sinn ergibt.
Okay, etwas grenzwertig fand ich es schooon, dass die letzten Episoden komplett farblos daherkamen, nachdem wir so lange mit glitzer-oasigen Wüsten, bewohnt wirkenden Wohnungen und hübschen Kanzleien verwöhnt wurden. Aber so bleibt mir die Stimmung der letzten Folgen noch mehr im Kopf. Ja, auch diese Entscheidung zum Grau-in-Grau-Pamps macht künstlerisch Sinn.
Oder man sagt sich einfach (wie ich), dass Showrunner Vince Gilligan auch 20 Minuten eine Orange filmen darf, die einen Berg runterrollt. So viel Vertrauen muss man in einen der der tiefgründigsten und mutigsten Serienmacher (natürlich nach TNG-Copyshop-Besitzer Seth McFarlane) haben.
Kim Wexler schlägt sich ebenfalls mit den übelsten, verschlagensten und skrupellosesten Gestalten herum. Hier sehen wir sie, wie sie mit Angestellten einer BANK herumsteht. Schauder.
„Geht es nicht eigentlich um das Drogenkartell und deren Probleme untereinander? Was mache ich denn, wenn mich Gangstergeschichten normalerweise nicht interessieren?“
Dasselbe wie ich: Einfach akzeptieren, dass gute Geschichten in jedem Genre möglich sind. Und dass das gegenseitige Belauern der halbseidenen Gestalten psychologisch sooo spannend ist, dass viele andere Plots dagegen abstinken. Die Existenzkrisen in anderen Serien („Bin ich schwanger, single, trans oder gender?!“) erscheinen neben einem Fabriktreffen mit 10 Millionen Dollar auf dem Tresen einfach nur aufgeblasen – das kann ich feierlich versprechen.
Man könnte noch viel mehr loben oder erwähnen, wie z.B. die Detailverliebtheit bei dem Bau eines unterirdischen Labors, das man uns in anderen Serien einfach fertig „hinstellen“ würde. Oder die Details bei der Genehmigung eines neuen Bankgebäudes („Falsche Hausnummer angegeben? Antrag abgelehnt bis nächstes Jahr!“).
Aber da sich die ganze Schönheit am besten entfaltet, wenn man sie konzentriert ansieht und die Feinheiten entdeckt, verbleibe ich einfach mit einem Guckbefehl.
Fazit: „Better Call Saul“ hat bereits Fernsehgeschichte geschrieben. Trotz oder gerade WEGEN der Mischung aus knallhartem Gangster-Krimi, vielseitiger Lebemann-Romantik und schnuckeligem „Jimmy berät oft Rentner“-Alltag.
Ob es hier um das Scheitern eines eigentlich(?) guten Menschen geht, um eine sehr ungewöhnliche Liebe (auch zu sich selbst) oder die Schönheit von Details („Könnt ihr bitte noch mal Milch in Großaufnahme in den Kaffee gießen?“), das darf jeder selbst entscheiden.
ICH habe jedenfalls kaum was auszusetzen.
Vielleicht etwas zu anspruchsvoll in einer schnellebigen Zeit (schnelllebig?)
Man weiß nie, ob er Opfer oder Täter ist. Er ist Täter, keine Frage, aber immer mit Mitteln, die keinem wehtun.
Überlebenskämpfer, der seine ihm zustehenden Mittel anwendet.
Better Call Saul hat mehr Tiefe als 90% aller Serien, man muss sich halt nur einlassen wollen.
Das Gute ist ja: Man muss keine Intelligenzbestie sein oder besonders geduldig, man kann sogar ständig pausieren – jede einzelne Szene ist fast perfekt und am Ende geht es gar nicht groß um irgendeinen Fall, sondern um Inszenierung, Dialog- und Charakterstärke. Plansequenz, die Serie.
Ich habe manchmal auch pausiert, um den Eindruck einer Szene erstmal sacken zu lassen – nicht wie bei anderen Serien, um einen exzessiven Wutausbruch oder angestrengtes Gähnen zu vermeiden.
Fast hätte ich ein Lob für die Kritik hinterlassen, dann fiel mein Blick auf den Kasten über der Kommentarspalte und ich sah den Hinweis auf eine Mad Men Kritik.
Die war so schleeeeeeeecht … also nein!
Da verkneif ich mir das Lob für diese hier.
Sehr objektiv, muss man sagen :D
Ich will gar nicht ausschließen, dass mir „Mad Men“ gute 10 Jahre später sogar gefällt. Damals war mir das zu prätentiös, heute bin ich es SELBER.
Und kann denen sogar noch sagen, wie man NOCH elitärer daherkommt?
(„Wenn die Figur ZWEI Stunden rauchend auf dem Klo sitzen würde, wäre dies eine NOCH deutlichere Kritik am neoliberalen Alt-Marxismus!“)
Better Call Saul und Breaking Bad, und der Vince war auch bei Akte X dabei. Der Mann hat Talent, muss man neidlos anerkennen. BCS und BB sind nach neomoderner Philosophie gestrickte Serien bei denen sich die Charaktäre über die Zeit und durch Erfahrung verändern und dazu lernen dürfen. Das Beste was man zur Zeit schauen kann.
Interview mit dem Macher von „Better …“:
https://www.newyorker.com/culture/the-new-yorker-interview/vince-gilligan-wants-to-write-a-good-guy?utm_medium=social&utm_source=facebook&utm_brand=tny&mbid=social_facebook&utm_social-type=owned&fbclid=IwAR3YbPxESlDWLUmswR0AgzJq80HbpMjN51HZquhtIqWYdpM1eSVoFqximRY
Sehr schön, unterschlagen wurde nur, daß die Serie streckenweise auch noch unglaublich witzig ist.
Ich glaube, die letzten Folgen hebe ich mir für das Totenbett auf, um mit dem Wissen, daß eh nichts Besseres mehr kommen kann, beruhigt zu entschlafen…